Rede unserer Vorsitzenden Elke Pudszuhn am 7. Mai vor dem Erfurter Landtag
10. Mai 2015
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
Ich habe eine Einladung vom Präsidenten des Thüringer Landtages Herrn Carius erhalten zu einer Veranstaltung anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des 2. Weltkrieges.
Am 8. Mai wurde eine Urkunde unterzeichnet, die bestimmte, dass das deutsche Oberkommando allen Streitkräften befehlen werde, am 8. Mai um 23.01 Uhr sämtliche Kampfhandlungen einzustellen, an ihren Orten zu verbleiben und ihre Waffen und alles Kriegsgerät unzerstört zu übergeben.
Der denkwürdige Ort, an dem die drei Vertreter des deutschen Oberkommandos das Papier zu unterzeichnen hatten, war Berlin-Karlshorst, wo sich heute ein Museum befindet.
Der letzte Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht, ausgefertigt am 9. Mai, suchte das klägliche und schändliche Scheitern der Welteroberer zu beschönigen. Sein Text sprach von einem „heldenhaften Ringen“, von „großen Siegen“ und „schweren Niederlagen“, von „einmaliger Leistung von Front und Heimat“.
Das interessierte die Menschen nicht mehr, obwohl sie jahrelang nach den Erfolgsmeldungen der OKW–Berichte gelechzt hatten.
In ihrer Mehrheit fragten sie sich, wie sie weiterleben könnten und müssten, wo sie eine Bleibe fanden und wie sie sich ernähren könnten. Millionen führte der Weg nach Osten und Westen in die Kriegsgefangenschaft.
Die Bedeutung des 8. Mai 1945 geht weit über die Markierung eines „Kriegsendes“ hinaus, wie das in der Einladung von Herrn Carius steht.
Mit diesem so wertneutralen und im Grunde nichts aussagenden Begriff, den offizielle Verlautbarungen und Medien in der Bundesrepublik Deutschland meist vorziehen, wird die welthistorische Zäsur des Sieges über den Faschismus und der Vollendung der Befreiung aller europäischen Völker nicht gerecht.
Auf ihrem schwer errungenen Weg von den Ufern der Wolga und den Küsten der Normandie in das Innere des Deutschen Reiches hatten die Soldaten der Alliierten Millionen Menschen aus der Gewalt der Eroberer befreit, Franzosen und Russen, Belgier und Luxemburger, Niederländer, Ukrainer und Polen.
Für sie alle hatte das Wort Befreiung einen unzweideutigen, im Wandel ihres Alltags sofort spürbaren Sinn.
Von vielen war die Last der Jahre währenden Todesdrohung genommen. Manche sagten, ihnen sei ein zweites Mal das Leben geschenkt worden. Indessen veränderte sich die Situation für die Befreier, als sie die Reichsgrenzen überschritten.
Bis dahin waren sie begrüßt, gefeiert, von frommen Menschen bekreuzigt und gesegnet worden. Nun also Deutschland, das Land, dessen Politik, gestützt auf die Massenaktion seiner Bewohner so viel Unheil angerichtet hatte. Über die Grenzen wurden Gefühle des Hasses, der Revanche und Rache mitgenommen, vielfach abhängig von dem Leid, das denen und ihren Nächsten widerfahren war, die nun hoffen konnten, dass sie den Tag des Sieges erleben würden.
Und die Deutschen? Wenn sie nicht wussten, so ahnten sie doch, was ihnen geschehen würde, wenn nun eine Abrechnung erfolgte und Gleiches mit Gleichem vergalt.
Das Gefühl des Befreitseins konnte nicht aufkommen.
Nicht bei denen, die Haus und Hof hatten verlassen müssen, nicht bei den Millionen, die den Weg in die Kriegsgefangenschaft anzutreten hatten, nicht bei den Millionen „kleinen“ oder sich klein machenden Nazis, die damit rechnen mussten, dass von ihrer Rolle die Rede sein würde und nicht folgenlos.
Und selbst jene, die von Krieg und Kriegsfolgen kaum etwas zu spüren bekommen hatten, sahen ungewiss und beklemmt in die Zukunft.
Wer diese subjektive Befindlichkeit des Frühjahrs 1945 zum Maßstab für die Beurteilung des Geschehens nimmt, dem mag der Begriff Befreiung nur für die Insassen von Konzentrationslagern, die politischen Häftlinge in Zuchthäusern und Gefängnissen, für die im Reich befindlichen Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeitern taugen.
Heute erkennen über 80 Prozent der Bevölkerung den Tag als den Tag der Befreiung an.
Wenn man vom 8. Mai 1945 spricht, muss man auch den 30. Januar 1933 nennen, den Tag der „Machtergreifung“, an dem die Weichen für die „Neuordnung Europas“ gestellt wurden. Von hier aus wollte sich ein „Tausendjähriges Reich“ über die versklavten Völker erheben. Dem Terror nach innen folgte der Terror nach außen.
Der Terror nach innen richtete sich zuerst gegen Kommunisten und Sozialdemokraten.
Unter den bereits 1933 verhafteten Antifaschisten waren auch meine Eltern.
Von den 18 Millionen Menschen, die das NS-Regime in KZ, Gefängnisse und Zuchthäuser verbrachte, wurden 11 Millionen ermordet oder durch Arbeit vernichtet. Mit dem Novemberpogrom am 10. November 1938 wurden 10 000 jüdische Männer nach Buchenwald gebracht.
Unfassbar der industrielle Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden, die – wie auch 600 000 Sinti und Roma – dem Rassengenozid zum Opfer fielen.
In Deutschland mussten fast acht Millionen und in Japan über zwei Millionen Menschen aus den eroberten Ländern Zwangsarbeit leisten.
Viele haben ihre Heimat nicht wieder gesehen.
Die Bilanz des Zweiten Weltkrieges bleibt auch nach 70 Jahren eine Bilanz des Schreckens, die das menschliche Vorstellungsvermögen überfordert. Nach neuesten Berechnungen starben mehr als 60 Millionen Menschen bei Kampfhandlungen, durch Repressalien, Massenvernichtungsaktionen und Kriegseinwirkungen.
Mit über 27 Millionen hatte die Sowjetunion die mit Abstand größten Verluste zu beklagen, China 15 Millionen, Polen 6 Millionen, 1,7 Millionen Jugoslawien.
Die Hauptlast im Kampf gegen Nazi-Deutschland trug die Sowjetunion, aber der Sieg über den deutschen Faschismus und die Befreiung Europas bleiben eine Leistung aller Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition.
Deshalb:
Im 70 Jahr der Befreiung von der Barbarei gedenken wir der Opfer von Faschismus und Krieg.
Wir verneigen uns tief vor den Soldaten der Anti-Hitler-Koalition, vor den Partisanen und den Kämpfern des illegalen Widerstandes, vor Zwangsarbeitern und Wehrmachtsdeserteuren.
Wir verneigen uns ehrfurchtsvoll vor den elf Millionen in den KZ, Zuchthäusern und Folterkammern der Gestapo bestialisch Ermordeten, vor jenen, welche die Hölle überlebten und am 8. Mai 1945 schworen: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“
Wir verneigen uns in besonderer Dankbarkeit vor dem sowjetischen Volk und seiner Roten Armee – vor dem Land, das die Hauptlast bei der Zerschlagung des Faschismus trug.
Wir bekunden unsere unbeschreibliche Abscheu vor dem Rassenwahn der Nazis, dem sechs Millionen Juden und sechs hunderttausend Sinti und Roma zum Opfer fielen.
Und wir vergessen nicht die Missbrauchten: Nicht jene, die Hitler hinterherliefen, ihn zumindest tolerierten und die ihm dienend für deutsche Kapitalinteressen krepierten.
Sechs Millionen Deutsche fielen und starben im Bombenhagel oder auf der Flucht.
Doch wir können gerade hier und heute nicht beim Erinnern stehen bleiben; wir müssen mit Brecht sagen:
„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“:
Die Botschaft der Überlebenden „Nie wieder Faschismus – Nie wieder Krieg“, ist nicht eingelöst. Kriege gibt es immer noch in der Welt.
Der Schwur von Buchenwald: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“, ist auch nach 70 Jahren noch nicht erfüllt.
Aktuelle Entwicklungen von Nazismus, Rassismus und Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Völkerhass nicht nur in Deutschland sind ausgehend vom Gedenken an die Geschichte, für uns die Herausforderung für politisches Handeln in der Auseinandersetzung mit diesen Erscheinungen.
Ich möchte mit Brecht enden.
Rede für den Frieden, 1952
Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz.
Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer.
Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Gräueln der Atombombe erhielt, schrecken ihn anscheinend nur wenig.
Der Hamburger ist noch von umringt von Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen Krieg zu erheben.
Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen.
Der Regen von Gestern macht uns nicht nass, sagen viele.
Die Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod.
Allzu viele kommen uns heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen.
Und doch wird mich nichts davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde bei zu stehen.
Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde!
Elke Pudszuhn, Landesvorsitzende des Thüringer Verbandes der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten