Erinnern heißt Kämpfen – Rede zum Tag der Opfer des Faschismus in Erfurt
20. September 2021
Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
liebe Genossinnen und Genossen,
am heutigen Tag gedenken wir der antifaschistischen Widerstandskämpfer:innen und der Opfer des Faschismus. Für viele Mitglieder der VVN-BdA ist dies ein wichtiges Ereignis, das auch eng mit der Geschichte der eigenen Organisation verknüpft ist.
Als relativ junge Sozialistin, deren Aufwachsen in die Zeit der Berliner Republik fällt, habe ich wahrscheinlich einen etwas anderen Zugang zum Thema Gedenken an den Nationalsozialismus als ältere Anwesende dieser Veranstaltung. Familiäre oder freundschaftliche Begegnungen mit der Zeitzeug:innen-Generation spielten für mich schon kaum mehr eine Rolle, weder auf der Seite der Täter:innen noch der Opfer von Verfolgung und faschistischem Terror. Stattdessen waren es schriftlich festgehaltene biographische Erzählungen, Besuche in den modernen Gedenkstätten und Medienerzeugnisse, die dafür gesorgt haben, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus für mich als Jugendliche immer mehr an Relevanz gewann. Mit all diesen Dingen habe ich mich außerdem – und das ebenfalls im Unterschied zu den Generationen vor mir – in einer Zeit auseinandergesetzt, in der das Gedenken an den Nationalsozialismus für die Bundesrepublik bereits zur Staatsräson gehörte. Den Nationalsozialismus zu thematisieren, war für meine Generation nie ein Tabu. Dass – vor allem in Westdeutschland – die Einrichtung von Gedenkorten und Zeichen der Erinnerung erst das Ergebnis einer harten gesellschaftlichen Auseinandersetzung war, war mir deshalb lange nicht bewusst. Dass das Gedenken in der DDR zwar von großer Bedeutung, aber durchaus auch nicht frei von problematischen politischen Implikationen war, selbstverständlich ebenfalls nicht. Für mich schien es einfach selbstverständlich, dass sich die Deutschen in Ost und West mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen und dass es stets positive Resonanz hervorrief, sich als junge Person ebenfalls mit diesem Teil der Geschichte zu beschäftigen. Erfahren konnte man dabei auf der Ebene der Fakten stets eine Menge. Vieles war bereits erforscht, Unterricht und Bildungsangebote zum Thema gab es zu Hauf. Um die höchst beunruhigende Frage jedoch, wie es denn hatte zum Zivilisationsbruch kommen können, ging es darin jedoch selten, was mich als Jugendliche lange frustriert und ratlos zurückließ.
Über die Jahre ist mein Einblick in die gesellschaftlichen Diskurse um das Gedenken an den Nationalsozialismus tiefer und differenzierter geworden. Für mich zeichnete sich dabei immer stärker ab, dass staatliche Gedenkpraxen und staatlich finanzierte Gedenkeinrichtungen, die ich als Jugendliche besucht hatte, sich zwar durchaus kritisch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen, der Bezug zur Gegenwart dabei jedoch wenig beleuchtet wird. Das ist meiner Ansicht nach auch logisch, müsste doch aus einer radikal kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch ein Uneinverständnis mit den heute vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren. Immerhin bildete den Nährboden des Faschismus in den 1920er und -30er Jahren die bürgerlich-demokratische Gesellschaft – eine Gesellschaft, die der heutigen in ihren Grundsätzen gleicht. Für mich wurde letzteres ein immer relevanterer Faktor, auch bei meiner Beschäftigung mit Geschichte. Die bloße Abgrenzung von „bösen Nazis“, wie sie allgemein oft vorgenommen wird, scheint mir deshalb viel zu kurz gegriffen. Überall wird meiner Ansicht nach heute deutlich, dass eine statt auf Solidarität auf Konkurrenz basierende Gesellschaft, in der Freiheit und Gleichheit hohle Phrasen sind, notwendigerweise menschenverachtende Ideologien hervorbringt, die von gewaltbereiten Neonazis in die Tat umgesetzt werden. Nazis morden immer wieder und sie tun dies auch in einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Sitzt man also nicht dem unhaltbaren Irrglauben von psychisch kranken Einzeltätern auf, muss einem dieser Umstand mehr als über die Individuen auch etwas über die heutige Gesellschaft sagen, in der die Täter sozialisiert wurden. Wenn wir uns also heute mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen und seiner Opfer gedenken, kommt es meines Erachtens zuallererst darauf an, eine Verbindung in die Gegenwart herzustellen und uns zu fragen: Was hat der Nationalsozialismus mit uns heute zu tun? Der rechte Terror, der seine Opfer in Synagogen, Moscheen oder in Sommercamps sozialdemokratischer Jugendorganisationen findet, lässt die Antwort erahnen. Nationalsozialistische Ideologie hat sich kaum verändert und sie ist weiterhin präsent. Sie hat ihrer Ursachen nicht zuletzt in der Undurchschautheit gesellschaftlicher Verhältnisse. Auch wenn sie heute nicht das staatliche Handeln leitet, wie zwischen 1933 und 1945, existiert sie weiter und ihre Vertreter:innen nutzen jede Gelegenheit, sie in die Tat umzusetzen, die sich ihnen bietet. Ein bloß auf die Vergangenheit gerichteter Blick und eine Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte, die diese Kontinuitäten nicht in den Blick nimmt und reflektiert, kann dagegen kaum ein Mittel sein, ist aber im Zeitalter der ritualisierten Gedenkveranstaltungen die gesellschaftliche Realität. Neonazis werden sich trotz der darin geäußerten Lippenbekenntnisse weiter radikalisieren und auf diejenigen losgehen, deren Leben sie für unwert halten. Und sie werden dies so lange tun, wie diese Gesellschaft in ihrer heutigen Form fortbesteht und Rassismus und Antisemitismus ihnen dazu dienen, sich zu erklären, was ihnen sonst unerklärlich erscheint. Insofern impliziert ein würdiges Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus für mich notwendigerweise einen kritischen Blick auf diese Gesellschaft, in der die Voraussetzungen für eine Wiederholung des Schreckens fortexistieren. Diese abzuschaffen, muss auch in Zukunft unser Ziel sein. Erinnern heißt Kämpfen.
Annika Neubert, VVN/BdA Erfurt