Nach 70 Jahren: Thüringer Verband der Verfolgten des Naziregimes 1947–2017

13. Juli 2017

Am 29. April 2017 hielt Ludwig Elm die Laudatio zum 70. Jahrestag der Gründung des Thüringer Verbands der Verfolgten des Naziregimes und referierte darin auf zentrale Wegmarken der erinnerungspolitischen Arbeit des Verbandes.

Nach 70 Jahren: Thüringer Verband der Verfolgten des Naziregimes (VdN) 1947–2017
Vortrag von Ludwig Elm auf der erweiterten Sitzung des Landesvorstands des Thüringer Verbandes VdN-BdA e.V. in Erfurt am 29. April 2017

Seit 2014 veranlassten verschiedene Jahrestage, dass der Erste und der Zweite Weltkrieg sowie der 8. Mai 1945 Gegenstand neuer Veröffentlichungen und zahlreicher Tagungen sowie insbesondere auch eines außergewöhnlichen öffentlichen Interesses und vielfältiger Debatten wurden. Im Frühsommer 1945 hatte sich Europa und der Welt das zuvor unvorstellbare Ausmaß der Verbrechen, Opfer und Verwüstungen des zweiten Weltkrieges, der zwölfjährigen Herrschaft eines Verbrecherstaates in Deutschland sowie seiner Verbündeten in Europa und Asien, offenbart. Die im Deutschen Reich herrschende konservativ-nationalistische, antisozialistische und schließlich auf barbarische Weise rassistische Rechte trug 1914 eine Haupt- und ab 1938/39 die Alleinschuld an weltgeschichtlich unvergleichlichen Exzessen des Massenmordes und des Versuches, die global erreichte Kultur und Zivilisation, die Grundlagen und Kernbestandteile des Humanismus, für immer zu zerstören. Vor diesem europa- und weltgeschichtlichen Hintergrund und der davon ausgehenden Veränderungen in der Welt erscheint es als wohl begründet, den 8. Mai 1945 als bedeutendste Zäsur des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen. Sie öffnete sich unter Trümmer- und Leichenbergen sowie angesichts weiterer Dutzende Millionen Opfern als Invaliden und Versehrte, Waisen und Witwen, Flüchtlinge und Heimatlose, Verarmte sowie umfangreicher Zerstörungen in vielen Ländern sowie weithin vorherrschendem Mangel am Lebensnotwendigsten.

Karl Barthel, Jüngster der 89 im Juli 1932 in den Reichstag gewählten Abgeordneten der KPD (und dem Parlament bis März 1933 angehörend), wurde im Oktober 1933 inhaftiert und war von 1937 bis April 1945 in Buchenwald. Bereits im Frühjahr 1946 erschien von ihm im Greifenverlag Rudolstadt „Die Welt ohne Erbarmen. Bilder und Skizzen aus dem KZ“. Er schilderte Vorgänge und Erlebnisse der Lagerhaft, in denen – nach seinen Worten – „Menschen zu Bestien werden“, „in diesem System der Unmenschlichkeit zu Un-Menschen“ wurden. Im nächsten Jahr veröffentlichte Werner Eggerath im Thüringer Volksverlag Weimar seine Erinnerungen aus Widerstand und Untergrund sowie als Häftling unter dem Titel „Nur ein Mensch“. Für ihn begann die Haft am 21. Januar 1935 mit der Folterung im berüchtigten Prinz-Albrecht-Haus der Gestapo in Berlin. Er widmete sein Buch „unseren Toten und denen, die mit uns litten“. Bald kam der umfassende „KL Bu – Bericht des internationalen Lagerkomitees Buchenwald“ heraus, eingeleitet von Ernst Busse.

Wir haben es vor allem Heinz Koch, Weimar, zu danken, dass unser Thüringer Verband gemeinsam mit dem Studienkreis deutscher Widerstand in Frankfurt a. M. 2003 die umfassende Dokumentation „Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945, Band 8, Thüringen“ herausgeben konnte. Nach besten Kräften wurde damit eine Pflicht gegenüber Verfolgten, Opfern und KämpferInnen jener Jahre, aber auch im Hinblick auf die Erinnerung und das Gedenken künftiger Generationen erfüllt. Es blieb der einzige Band eines ostdeutschen Bundeslandes in dieser verdienstvollen Reihe.

Im besiegten und dem Besatzungsregime in vier Zonen unterworfenen Deutschland, kam der Minderheit der überlebenden Verfolgten, Emigranten und WiderstandskämpferInnen eine besondere Verantwortung zu, die schwer wahrzunehmen und zu erfüllen war. Ihnen stand eine große Mehrheit von Mitläufern und Tätern gegenüber, von denen nicht selten Indifferenz und Resignation, auch Unbelehrbarkeit und Feindseligkeit gegen Neues ausging. Es gab die Fragen nach dem bisherigen Geschehen, der Schuld und Haftung, der Verfolgung von Tätern, aber auch riesige Probleme des Alltags, darunter Ernährung, Kleidung, Unterkunft und Arbeit, Energieversorgung und Verkehr, Aufräumen und Improvisieren, Aufbau neuer Selbstverwaltungen und Neubeginn in Medien, Schulen, Justiz, die Bildung antifaschistischer Parteien und Vereinigungen. Es ging unter schwierigen Bedingungen darum, vielen Tausend befreiter Häftlinge und Flüchtlingen Beistand und möglichst rasch wirksame Hilfe zu gewähren sowie grundsätzliche und gerechte Lösungen für Entschädigung und Wiedergutmachung durchzusetzen.

Zum zeitgeschichtlichen Kontext gehören u. a. die Potsdamer Konferenz, die Entnazifizierung, der Beginn der Nürnberger und weiterer Prozesse gegen Nazi- und Kriegsverbrecher sowie die zunehmenden Widersprüche zwischen den vier Besatzungsmächten und die Übergänge zur Spaltung Berlins und Nachkriegsdeutschlands. Mit dem Band von Elke Reuter und Detlef Hansel „Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953“, edition ost, Berlin 1997, besitzen wir einen hilfreichen, gut dokumentierten Leitfaden für die Frühgeschichte unseres Verbandes, insbesondere in SBZ und früher DDR. Aus lokal sehr unterschiedlichen Selbsthilfegruppen waren ab Frühjahr 1945 bald Ausschüsse Opfer des Faschismus (OdF) hervorgegangen. Der Hauptauschuss „Opfer des Faschismus“ konstituierte sich am 14. Juni 1945 in Berlin unter dem Vorsitz von Ottomar Geschke (KPD). Am 9. September 1945 wurde in Berlin mit großer Beteiligung und Resonanz die Tradition der Gedenkkundgebungen am 2. Sonntag im September eröffnet.

Es kam zu Kontroversen darüber, wer als „Opfer des Faschismus“ einschließlich der damit begründeten Ansprüche anzusehen wäre. Beispielsweise äußerte der Buchenwalder Richard Grosskopf aus Thüringen auf einer Konferenz der OdF-Ausschüsse der SBZ in Leipzig am 27. und 28. Oktober 1945 auch mit Blick auf die nach den Nürnberger Gesetzen Verfolgten: „Alle unsere Kameraden in den Landkreisen waren grundsätzlich einer Auffassung: Opfer des Faschismus ist ein bestimmter Typ von Kämpfern, und den wollen wir erhalten“. Aber „wir werden uns schweren Herzens dazu bequemen müssen, uns den Auffassungen des Hauptausschusses anzugleichen“. (Reuter/Hansel, S. 83) Laut einer Erhebung für die SBZ waren bis Mai 1946 in Thüringen ca 2000 als „Kämpfer gegen den Faschismus“ sowie daneben die gleiche Zahl als „Opfer des Faschismus“ anerkannt. Dazu kam die Betreuung von Hinterbliebenen.

Eine Beratung von OdF-Vertretern aus allen vier Zonen fand am 20.-22. Juli 1946 in Frankfurt a. M. statt. Alle Teilnehmer sprachen sich für eine gesamtdeutsche Organisation aus, die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ heißen solle. Ab Herbst 1946 erfolgten in den Ländern der vier Besatzungszonen VVN-Gründungen. Ein Dachverband der VVN für die SBZ wurde am 22./23. Februar 1947 in Berlin gegründet; Franz Dahlem referierte. Im Zentralvorstand war Thüringen durch sechs Mitglieder vertreten, darunter Willy Kalinke (Erfurt), Theodor Plivier (Weimar) und Else Schreck (Jena). Die gesamtdeutsche VVN konstituierte sich vom 15. bis 17. März 1947 in Frankfurt a. M. aus Vertretern aller Besatzungszonen. Sie repräsentierte als überparteilicher und mit Abstand mitgliedsstärkster Zusammenschluss der Verfolgten und WiderstandskämpferInnen ein bündnispolitisch breites Spektrum. Ein Deutscher Rat der VVN koordinierte und vertrat die unabhängigen Landesverbände.

Der Landesverband Thüringen der VVN wurde im April 1947 in Erfurt gegründet; ein vorbereitender Ausschuss hatte im Januar 1947 die Arbeit aufgenommen. 1. Vorsitzender war Willy Kalinke aus Erfurt. Im Januar 1948 fand die erste Jahreskonferenz in Thüringen statt. In jenem Jahr waren in 23 Kreisen und 121 Ortsgruppen rund 5300 Mitglieder organisiert. Dem etwa 50köpfigen Landesvorstand gehörten Buchenwalder und weitere ehemalige Häftlinge an, darunter Karl Barthel, Karl Brundig, Ernst Busse, Werner Eggerath, August Frölich, sowie KameradInnen aus Untergrund und Emigration. Im Deutschen Rat der VVN war Thüringen durch Pfarrer Martin Siedersleben aus Suhl vertreten. Persönliche Erinnerungen habe ich an die damaligen Landesvorstandsmitglieder Karl Brundig aus Weimar und Werner Eggerath – dem Ehrensenator der Friedrich-Schiller-Universität (1966) gratulierte ich 1975 in Berlin namens seiner Universität zum 75. Geburtstag.

Seit der Befreiung gab es auch in Thüringen zahlreiche antifaschistische Initiativen, die als Berichte überlebender Häftlinge und aus dem Widerstand, Kundgebungen, Beiträge in der Regionalpresse sowie Aktivitäten der OdF bzw. VVN zum Umdenken vieler Menschen und zur geistig-moralischen und politischen Unterstützung des Neubeginns beitrugen. Mitte Oktober 1945 fand in Erfurt eine Großkundgebung mit Wilhelm Pieck statt. Das Heim in Elgersburg wurde für Kinder und Familien von Verfolgten geöffnet. Die Postdirektion Erfurt gab am 18. Dezember 1945 für Thüringen einen Briefmarken-Block „Weihnachtsspende 1945“ zum Preis von 2 Reichsmark heraus. Die drei Marken zu 3, 4 und 5 Pfennig mit dem Motiv „Thüringer Wald“ trugen die Unterschrift „Für die Opfer des Faschismus“. Das blieb in der Besatzungszeit deutschlandweit die einzige philatelistische Edition, die diese große Gruppe solidarisch so nannte. Gleichzeitig erschien ein Vierer-Block „Thüringen-Spende zur Friedensweihnacht 1945“ für 10 Reichsmark, „wovon 0,50 RM der sozialen Wohlfahrt des Landes Thüringen zufliessen“.

Bereits im April 1947 erfolgte die Grundsteinlegung des Buchenwald-Denkmals. Im Sommer 1952 wurden in Berlin vier Entwürfe für das Denkmal ausgestellt, darunter der 1. Entwurf von Fritz Cremer. Es gab landesweit Gedenkveranstaltungen und Mahnmale für ermordete Widerstandskämpfer. Im Juli 1947 fand in Gera ein Treffen der Spanienkämpfer statt. Von Anbeginn wandte sich die VVN der Verpflichtung zu, die Geschichte des antifaschistischen Widerstandes zu dokumentieren und öffentlichkeitswirksam darzustellen. Dafür wurden Forschungsstellen geschaffen. Ein früher Höhepunkt war die Ausstellung „Das andere Deutschland“, die am 1. September 1948 in Berlin eröffnet wurde und großes Interesse und viel Akzeptanz fand. Sie wurde in weiteren Städten gezeigt, darunter im August/September 1949 in Erfurt mit über 22.000 Besuchern.

Höhepunkte waren ab April 1946 die Befreiungstage in Buchenwald, die bald überregionale und internationale Beteiligung und Bedeutung erlangten. Ehemalige Häftlinge der einzelnen KZ und Lager bemühten sich nach ihrer Befreiung um dauerhaften Zusammenhalt. Die Buchenwalder bildeten 1947 ein Lagerkomitee. Die Treffen beim Befreiungstag Buchenwalds im folgenden Jahr führten zur Bildung von Lagerarbeitsgemeinschaften aller größeren KZ. Sie erlangten in den folgenden Jahrzehnten und fortgesetzt in den nachfolgenden Generationen eine herausragende Bedeutung für alle Gebiete antifaschistischer Arbeit.

Eine Tagung des Deutschen Rates der VVN fand am 16. und 17. Oktober 1948 auf der Wartburg statt, an der – außer Bayern – alle Landesvereinigungen teilnahmen. Im Kommuniqué wurde eine größere Wachsamkeit gegen alle neofaschistischen Erscheinungen gefordert, gegen die Schonung von Kriegsverbrechern und die Rehabilitierung faschistischer Elemente protestiert sowie für die tatkräftige Förderung der Friedensbewegung geworben. Zu lesen ist auch: „Der Rat der VVN verwahrt sich schärfstens gegen jede Propaganda, die Internierungslager der Alliierten den Konzentrationslagern des Faschismus gleichzustellen.“ Das bagatellisiere die NS-Verbrechen. (Zit. nach Wortlaut des Kommuniqués in: Jahrbuch 1949, VVN Land Thüringen. Landesvorstand der VVN, Erfurt, S. 70-72) Frühzeitig musste sowohl gegen das Verdrängen von NS-Verbrechen als auch die verbreitete Stimmungsmache gegen die Unterstützung von NS-Opfern aufgetreten werden.

Im Jahrbuch 1949 der VVN Thüringen findet sich wiederum ein Beitrag „Wer ist Opfer des Faschismus?“ von Regierungsrätin Gerber aus der Abteilung Opfer des Faschismus im Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge. Sie erinnerte an den großen Kreis von Betroffenen, die schwierigen Klärungsprozesse seit 1945 und nannte die Kriterien und Gruppen, nach denen anerkannt werde. Nunmehr wurde ein breites Spektrum von Verfolgung, Entrechtung und Vernichtung erfasst, darunter die Opfer der antijüdischen Nürnberger Gesetzgebung und der Sinti und Roma. Weitere Beiträge des Jahrbuches verfassten u. a. Werner Eggerath, Ernst Busse, Willy Kalinke, Franz Dahlem und Karl Barthel, darunter zur Einheit der VVN und ihrer Überparteilichkeit, sowie zum Verhältnis der VVN zur Presse, zur Justiz und zu den Gewerkschaften.

Die Überparteilichkeit der VVN wurde inzwischen von verschiedenen Seiten ausgehöhlt. Die SPD-Führung wandte sich unter Kurt Schumacher von Anbeginn gegen das Zusammengehen von Sozialdemokraten mit Kommunisten und stieß dabei zunächst auf Unverständnis und vielfach Widerstand von Sozialdemokraten, die der VVN angehörten und darin oft Leitungsfunktionen ausübten. Andererseits suchten die Führungen von SED und KPD ihren Einfluss zielstrebig und bis zur eigenen Dominanz zu verstärken. Das wurde durch den hohen Anteil der Kommunisten am Widerstand und ihre Einsatzbereitschaft nach der Befreiung sowie Personalunion zwischen Partei und VVN bis in die Führungsgruppen begünstigt.

Die Führung der SPD – so schreibt Kristina Meyer in „Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945 – 1990“, Göttingen 2015 – „setzte auf eine Isolierung und Schwächung der VVN, die nur durch den Abzug sämtlicher Sozialdemokraten zu erreichen war.“ Sie beschloss im Mai 1948, „dass Mitgliedschaften in der SPD und in der VVN fortan als unvereinbar gelten und bei Zuwiderhandlung zum Parteiausschluss führen sollten“. (S. 85) Die SPD ging damit sogar den bürgerlichen Parteien voran. Sie leitete die antikommunistische Diskriminierung und Ausgrenzung der VVN ein, die deren staatliche Verfolgung und Unterdrückung nach Gründung der Bundesrepublik politisch und ideologisch vorbereitete und förderte. Die gleichzeitige Gründung der Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten (AvS) schrieb die Spaltung langfristig fest. Trotzdem gehörten 1949 noch rund 17.000 SPD-Mitglieder der VVN an. Als innerparteiliche Gliederung und reglementiert von der Führung gewann die AvS weder innerhalb der SPD noch – im Unterschied zur VVN – in der bundesdeutschen Politik jemals einen nennenswerten Einfluss.

Mit dem Beschluss der Bundesregierung vom 19. September 1950 – dem Adenauer-Erlass – „Politische Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Grundordnung“ wurde die behördliche Verfolgung und Repression der KPD und ihr nahestehender Organisationen, darunter ausdrücklich auch der VVN, eingeleitet. Der Rat der VVN wurde am 21. Juli 1951 verboten und im November der Verbotsantrag der Bundesregierung gegen die KPD gestellt. Die Verfolgungen galten über Jahre auch der VVN, zeit- und länderweise auch als Verbot, und werden in modifizierten Erscheinungsformen zumindest in Bayern und weiteren Bundesländern durch den Verfassungsschutz bis heute fortgesetzt. Den Gegenpol bildete das auf den einschlägigen Artikel des Grundgesetzes bezogene „131er-Gesetz“ vom 11. Mai 1951, das die Ansprüche NS-Belasteter auf Wiedereinstellung im öffentlichen Dienst sowie uneingeschränkte Altersversorgung bei Anerkennung der Dienstjahre und Beförderungen im Dritten Reich für die Betroffenen regelte sowie zügig und umfassend verwirklicht wurde.

Die VVN war Ende Mai 1948 in Warschau in die Internationale Föderation ehemaliger politischer Häftlinge (FIAPP) aufgenommen worden, aus der 1951 die bis heute bestehende Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) hervorging. Neben und mit dem Antifaschismus und Antirassismus wurde in den folgenden Jahrzehnten wie in der VVN aufgrund der Erfahrungen seit 1914 sowie neuer Bedrohungen das Friedensgebot zu einem Leitmotiv der FIR.

Anfang 1953 beschloss die SED-Führung die Auflösung der VVN in der DDR. Ihre Aufgaben seien erfüllt und ihre Anliegen in der DDR aufgenommen. Immerhin wurden Arbeitsfelder der VVN an Massenorganisationen, Staatsorgane und weitere Einrichtungen übertragen, um sie in der Folgezeit wahrzunehmen. Vor allem internationale Verpflichtungen oblagen nun dem Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer. Nach dessem Beipiel wurden ab 1972 solche Komitees auf Bezirks- und Kreisebene gebildet. Die ohne Meinungsbildung mit den Betroffenen 1953 autoritär entschiedene Auflösung der ostdeutschen VVN ist kritisch zu beurteilen. Sie beeinträchtigte dauerhaft den eigenständigen Rang und die innere Differenziertheit dieser Bewegung, ihre bündnispolitischen Möglichkeiten sowie die Offenheit für nachwachsende Generationen und antifaschistisch motivierte Gruppen und Personen. Ungeachtet dessen und nicht zuletzt im deutlichen Gegensatz zur Bundesrepublik bleibt zu würdigen, dass Antifaschismus wesentliche Komponente der politischen Kultur und des Geisteslebens der DDR blieb und diesen deutschen Staat unverwechselbar prägte.

Die Umwälzungen von 1989/90 führten zu einem Neubeginn in Ostdeutschland, der nunmehr vom antifaschistischen Potential der DDR-Gesellschaft Zeugnis ablegte. Das bestätigten auch die Wahlergebnisse in der Schlussphase der DDR und unmittelbar nach dem Beitritt zur Bundesrepublik, in denen den dreister werdenden nazistischen Kräften weithin Abfuhren erteilt wurden. Im Mai 1990 entstand der Bund der Antifaschisten (BdA) und im Oktober 1990 der Interessenverband der Verfolgten des Naziregimes (IV VdN). Wir können auch für die Regionen, Städte und Gemeinden in unserem Bundesland ab Oktober 1990 geltend machen, dass WiderstandskämpferInnen, Hinterbliebene und weitere Angehörige sowie antifaschistisch-demokratisch motivierte BürgerInnen diese Traditionen gegen Anfeindungen und Bevormundungen seit 1990 in den beiden genannten Verbänden wahrten und fortführten. 1998 vereinten sich in Thüringen BdA und IV VdN und bald auf zentraler Ebene.

Damit war der Weg frei, den bundesweiten Zusammenschluss vorzubereiten, der im Oktober 2002 in Berlin zur nun wiederum gesamtdeutschen VVN-BdA führte. Dabei konnte ich als Landesvorsitzender, aber auch als Mitglied der zentralen Gremien zunächst der beiden ostdeutschen Verbände, der gemeinsamen Arbeitsgruppe ab 2000 sowie in der Anfangszeit der bundesweiten Vereinigung (bis 2008), für unsere Landesorganisation am gründlich vorbereiteten und von gemeinsamen Zielen geleiteten Einigungsprozess mitwirken. Auf die damaligen Erfahrungen und Ergebnisse sowie den gemeinsamen Weg mit Widerstandskämpfern wie Fred Dellheim, Peter Gingold, Kurt Julius Goldstein, Fred Löwenberg und anderen blicke ich persönlich mit großer Befriedigung zurück.

Übrigens hatte der Buchenwalder Eugen Kogon, Verfasser von „Der SS-Staat“, auf dem VVN-Gründungskongress 1947 gefordert, die deutschen Widerstandskämpfer als einzig berechtigte Vertreter des deutschen Volkes anzuerkennen. Es gibt Anlass, an solche damals im In- und Ausland verbreiteten Erwartungen zu erinnern. Die im September 1949 in Bonn konstituierte Mitte-Rechts-Regierung unter Adenauer stellte die völlige Abkehr von solchen Perspektiven dar. Die Vorgänger der Bonner Koalitionsparteien hatten im März 1933 alle dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zugestimmt. In westdeutschen Landtagen und Landesregierungen, nunmehr auch im Bundestag und selbst auf dem Sessel des Bundespräsidenten, saßen Ja-Sager vom 23. März 1933. Zumindest durch Bundesminister der Deutschen Partei (DP) reichte die Koalition bis nach rechtsaußen. Die Hauptströme des antifaschistischen Widerstandes blieben aus exekutiven Schlüsselpositionen in der Bundesrepublik für lange (SPD) oder immer (KPD) ausgeschlossen.

Mehr als vier Jahrzehnte seit 1949 hatten die wechselnden parlamentarischen Mehrheiten und Koalitionsregierungen in Bonn keinen Anlass für eine Gedenkstättenpolitik gesehen, von der antifaschistische Signale ausgingen. Das war für die vergrößerte BRD nach 1990 auch international nicht mehr haltbar. Nunmehr waren die monumentalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR – voran Buchenwald, auch Sachsenhausen, Ravensbrück und weitere – gefragt, entsprechenden repräsentativen Bedürfnissen zu dienen. Ähnliches lässt sich für den gegensätzlichen Umgang beider deutscher Staaten mit dem 8. Mai als europa- und weltgeschichtlichem Befreiungstag nachweisen. Bei der Magnus-Poser-Ehrung in Jena am 21. Juli 2015 habe ich namens unserer Basisgruppe die Einführung des Gedenktages 8. Mai in Thüringen nachdrücklich begrüßt. Allerdings kam ich nicht umhin, zu geschichtsentstellenden Aussagen in der Begründung des parlamentarischen Antrags kritische Bemerkungen zu machen.

Die erste parlamentarisch legitimierte Gedenkstättenkonzeption der Bundesrepublik von 1999 enthält einleitend die Aussage, dass die Erinnerung an „zwei deutsche Diktaturen und ihre Opfer“ den Kerngehalt von Erinnern und Gedenken in der Bundesrepublik bilde. Die zweite neben dem Verbrecherstaat ist nicht etwa die kaiserliche Militärdiktatur von 1914 bis 1918 mit ihren ebenfalls Millionen Opfern und europaweiten Verbrechen – sondern die DDR. Diese unsägliche Zusammenfassung wurde von allen Fraktionen mit Ausnahme der PDS bzw. DIE LINKE gebilligt.
Dazu ist festzustellen: Wer in dieser Weise aus ideologischen und parteitaktischen Gründen im offiziellen bundesrepublikanischen Selbstverständnis die weltgeschichtliche Einzigartigkeit der nazifaschistischen Diktatur und ihrer Verbrechen gegen die Menschheit zu relativieren und zu verdunkeln bereit ist, ist von einer annähernd hinreichenden Aufarbeitung der deutschen Geschichte zwischen 1914 und 1945 sowie angemessenen gesellschafts- und friedenspolitischen Einsichten und Folgerungen noch weit entfernt. Die im Antikommunismus wurzelnden, eklatanten Defizite betreffen vor allem die Unionsparteien, aber bei weitem nicht nur sie.

Mit dem Blick auf unsere Traditionen und Herkünfte weisen wir die denunziatorische Floskel vom „verordneten Antifaschismus“ zurück. Sie ignoriert oder fälscht die Erfahrungen und Motive der Verfolgten und Opfer beim radikalen Neubeginn und der Gründung der DDR; sie beleidigt und verleumdet diejenigen, die sich der gesamten Wahrheit über die faschistische Barbarei öffneten und daraus für sich politische und moralische Konsequenzen ableiteten. In der Floskel verbinden sich altbundesdeutsche Ignoranz und Anmaßung mit der nachwirkenden Moral der Mitläufer der Nazidiktatur. Soweit spätere Erscheinungen der parteipolitischen Verengung oder fragwürdiger Instrumentalisierungen durch die Führung der SED dafür als Vorwand genannt werden, rechtfertigt dies keine verallgemeinerte Diffamierung, die ihrerseits noch ganz anderen politisch-ideologischen Zielen dient.

In einem Essay „Gedanken zu Buchenwald“ äußerte Ralph Giordano 1994, dass eine Gleichstellung beider Lager im Sinne von „Buchenwald 1937 bis 1950“ eine „auf der mächtigen Tradition deutscher Verdrängungssucht und Kompensationssucht gewachsene Geschichtsfälschung“ ist. Nach Kritik am langjährigen Schweigen über stalinistische Verbrechen in den sozialistischen Ländern, fügte er an, zu widerstehen sei auch „den Sprüchen derer, die den Kalten Krieg auf dem Rücken der untergegangenen DDR nun noch nachträglich gewinnen, und ihrem nichtdemokratisch und nichthuman motivierten Antikommunismus zu einem späten Triumph verhelfen wollen.“ Das seien „genau die Stimmen und Gesinnungen“, die in der alten Bundesrepublik über fast ein halbes Jahrhundert die nazistische Vergangenheit verdrängt haben: „Denen ein Strich durch die unsaubere Rechnung!“ (Kurt Faller/Bernd Wittich: Abschied vom Antifaschismus, Frankfurt (Oder) 1997,
S. 291, 293)

Tatsächlich findet sich die eigentliche Motivation der Feindseligkeit gegenüber dem Antifaschismus in den Ursprüngen und Grundlagen der Bundesrepublik: Der SPIEGEL – gerade seit knapp drei Monaten erscheinend – berichtete vom Gründungskongress der VVN in Frankfurt a. M. Der aus der Emigration zurückgekehrte Hans Mayer, zunächst Chefredakteur von Radio Frankfurt und später angesehener Literaturwissenschaftler, „gab der Versammlung bekannt, dass der Nordwestdeutsche Rundfunk durch eine geheime Anweisung seinen Sprechern die Verwendung des Wortes ‚antifaschistisch‘ verboten habe.“ (Nr. 12, 22. März 1947, S. 4) Es galt für die restaurativen Kreise, in den Medien gegen die antifaschistischen Kräfte keine Zeit zu verlieren. Das waren frühe ideologische Signale der Restauration, die sich mit der Gründung der BRD ungehemmt entfaltete. Diese war ohne die Verdrängung der jüngsten Vergangenheit nicht zu verwirklichen und ein kämpferischer Antifaschismus – zumal aus der Arbeiterbewegung – war dabei störend, er war von Anbeginn zu marginalisieren und zu unterdrücken. So geschah es auch. Wie Kristina Meyer in ihrer Veröffentlichung nachweist, veranlasste selbst die SPD-Führung unter der NS-Diktatur verfolgte Sozialdemokraten, bezüglich ihrer Erfahrungen öffentlich Zurückhaltung zu üben.

Die Feindseligkeit der konservativen Führungskreise der Bundesrepublik zum Antifaschismus wurzelt in deren Herkunft sowie ihrer sozialen Basis und gesellschaftspolitischen Strategie – der rote Faden reicht von der frühen Spaltung und versuchten Unterdrückung der VVN bis zu den andauernden Bemühungen, den Antifaschismus der DDR zu denunzieren und seine nachwirkenden ideell-politischen Impulse zu unterbinden, bis zu heutigen Anstrengungen, die VVN als „linksextremistisch“ und angeblich verfassungsfeindlich zu beobachten und zu verfolgen sowie überhaupt erklärten und gelebten Antifaschismus herabzusetzen, auszugrenzen und zu ächten.

Die nach 1990 erhobene Forderung, in die Präambel des Grundgesetzes einen Passus aufzunehmen, der die größere und in ihren Handlungsspielräumen wachsende Bundesrepublik angesichts der deutschen Geschichte bis 1945 zu Friedenspolitik und Antifaschismus verpflichte, wurde mit der üblichen Routine von üblichen Mehrheiten abgelehnt. Heute erleben wir, dass jene Weigerung nicht nur verbrecherische Erbschaften vergessen machen, sondern auch die Rückkehr zu imperialen und gewalttätigen Mitteln der Politik im Inneren und insbesondere nach außen offenhalten und wieder ermöglichen sollte. Wie in der Vergangenheit des Deutschen Reiches und anderer Staaten entwickeln sich heute erneut Militarisierung und Aggressivität nach außen in Wechselwirkung zu Abbau der Demokratie und dem Aufkommen neuer rechtskonservativ-nationalistischer bis nazistisch-rassistischer Richtungen, Organisationen und Umtriebe – in der Bundesrepublik, in Europa und den USA sowie darüber hinaus.

Es bleibt festzustellen: Der Schwur von Buchenwald erweist sich 2017 als unverändert verpflichtend, da er bis heute unerfüllt und seine Verwirklichung weiterhin ungesichert und gefährdet ist. Die Gegenwart erinnert uns eindringlich daran, dass er gültig bleibt und als humanistische Herausforderung lebensnotwendig in die Zukunft weist.